Rückblick auf die 44. Legislaturperiode

9. Verkehr

94.035 Strassentransitverkehr im Alpengebiet. Bundesgesetz
Transit routier dans la région alpine. Loi

Botschaft: 04.05.1994 (BBl II, 1295 / FF II, 1295)

Ausgangslage

Mit der Annahme der Alpeninitiative am 20. Februar 1994 ist Artikel 36sexies in Rechtskraft erwachsen. Während für die Bestimmungen über die Verlagerung des Gütertransitverkehrs auf die Schiene eine Umsetzungsfrist von 10 Jahren vorgesehen ist, entfalten die Bestimmungen in Absatz 3 über den Bau und Ausbau von Transitstrassen sofort Wirkung. Es ist deshalb nicht möglich, einen einzigen Ausführungserlass vorzulegen. Die Gütertransitfrage wird in einem späteren Zeitpunkt zu regeln sein, der vorliegende Entwurf bezieht sich ausschliesslich auf die Frage des Baus und Ausbaus von Transitstrassen im Alpengebiet.

Der Entwurf definiert den Begriff "Alpengebiet" im Sinne der internationalen Alpenkonvention. Unter Transitstrasse werden alle National- und Hauptstrassen (im Sinne des Treibstoffzollgesetzes) verstanden, welche im Tagesdurchschnitt von mehr als 1500 Motorfahrzeugen befahren werden, wobei mindestens 10 Prozent des gesamten Personen- und Güterverkehrs Transitverkehr sein müssen. Die Folge einer Klassierung als Transitstrasse ist ein generelles Verbot, baulich die Verkehrskapazität zu erhöhen, mit den einzigen Ausnahmen für Ortsumfahrungen und offensichtliche Sicherheitsproblemstellen. Transitstrassen sind nach den verfügbaren Unterlagen derzeit die N 2 Luzern--Chiasso, die N 9 ab Brig über den Simplon, die N 13 Thusis--Bellinzona, sowie die A 21 ab Sembrancher über den Grossen St. Bernhard. Dazu sind einige Strecken im Grenzbereich und müssen noch vertieft abgeklärt werden (Col de la Forclaz, Reichenau--Thusis, N 13 St. Galler Rheintal, einzelne Teilstrecken im Engadin, sowie die Strasse von Stabio nach Gaggiolo).

Der Entwurf - ausgestaltet als Bundesgesetz mit generell-abstrakten Normen - führt nahe zu den von allen Seiten bisher geäusserten Intentionen, das Ausbauverbot auf die wichtigsten Haupttransitachsen zu beschränken. Die einzige wesentliche Differenz besteht in der Behandlung der N 9 zwischen Siders und Brig. In dieser Frage besteht nach wie vor keine Einigkeit, ist wohl auch keine Einigkeit erreichbar.

Die N 9 im Rhonetal ist gemäss diesem Konzept nicht eine Transitstrasse. Das hohe Verkehrsaufkommen ist weitgehend Binnenverkehr und Ziel-Quellverkehr, der Transitverkehrsanteil liegt unter 5 Prozent. Wollte man die massgebliche Grenze des Transitverkehrsanteils so tief ansetzen, dass auch diese Strecke darunter fällt, wäre praktisch das gesamte National- und Hauptstrassennetz in den Alpen betroffen, und die Initiative zum Schutz des Alpengebietes vor dem Transitverkehr brächte für das gesamte Alpengebiet praktisch das Ergebnis der 1990 von Volk und Ständen deutlich abgelehnten Initiative "Stopp dem Beton - für eine Begrenzung des Strassenbaus".

Verhandlungen

SR 01.06.1994 AB 1994, 434
NR 08.06.1994 AB 1994, 893
SR 14.06.1994 AB 1994, 649
NR 15.06.1994 AB 1994, 1067
SR / NR 17.06.1994 Schlussabstimmungen (39:1 / 96:60)

Bei der konkreten Umsetzung der Alpeninitiative beschränkte sich der Ständerat auf eine Minimallösung: Er schrieb ein Ausbauverbot lediglich für die vier klassischen Transitrouten fest. Gegen den Willen des Bundesrates entschied die kleine Kammer, im Transitgesetz jene Strassenzüge namentlich aufzulisten, für die ein umfassendes Ausbauverbot gelten soll. Es sind dies die Gotthardautobahn N 2 zwischen Amsteg und Bellinzona Nord, die N 13 zwischen Thusis und Bellinzona, die Simplonstrasse zwischen Brig und Gondo/Zwischenbergen sowie die Passstrasse am Grossen St. Bernhard zwischen Sembrancher und dem Scheiteltunnel an der Landesgrenze. Die umstrittene N 9 im Oberwallis könnte damit ohne Beschränkung ausgebaut werden. Für die abschliessende Aufzählung der vier Strecken sprachen nach Meinung des Ständerates vor allem politische Überlegungen. Der nach der überraschenden Annahme der Alpeninitiative verhängte Projektierungsstopp sollte rasch aufgehoben werden, damit die Kantone über ihre Strassenbaupläne wieder klar entscheiden konnten.

In der Nationalratsdebatte stand die Frage im Zentrum, ob die geplante N 9 von Siders bis Brig eine Transitstrecke im Sinne der Initiative sei und damit nicht gebaut werden dürfe, wie im Abstimmungkampf von Initiativgegnern für den Fall einer Annahme der Initiative immer wieder betont worden war. Für die Deutschschweizer Linke, die Grünen und die LdU/EVP-Fraktion war klar, dass zwischen Siders und Brig keine vierspurige N 9 gebaut werden dürfte. Eindringlich warnte auch Spoerry (R, ZH) davor, im Kampf um die Alpeninitiative gemachte Versprechen in den Wind zu schlagen und die Glaubwürdigkeit der Politik aufs Spiel zu setzen. Hämmerle (S, GR) kritisierte Bundesrat Ogi , der ebenfalls vor der Abstimmung wiederholt erklärt hatte, die N 9 könne im Falle einer Annahme der Alpeninitiative nicht gebaut werden, und der jetzt dafür eintrete, das Teilstück zum Bau freizugeben. Die Mehrheit des Rates betrachtete jedoch allein den Verfassungstext als entscheidend und nicht Aussagen, die vor der Abstimmung gemacht worden seien.

Mit deutlichen Mehrheiten folgte der Nationalrat schliesslich den Beschlüssen des Ständerates. Mit 147 gegen 21 Stimmen entschied er ebenfalls, die vier ausbaugesperrten Transitstrecken namentlich aufzuführen. In einer Namensabstimmung verwarf er mit 100 gegen 67 Stimmen ein Ausbauverbot für die N 9 im Oberwallis. Die Fronten folgten dabei nicht genau den Fraktionsgrenzen. So stellten sich acht Westschweizer Linke auf die Seite der N-9-Befürworter, während ein gutes Dutzend Bürgerliche die N 9 ebenfalls dem Ausbauverbot unterstellen wollten.

Zu grösserer Diskussion Anlass gab auch ein Antrag von Bircher (C, AG) für ein refrendumspflichtiges "Bundesgesetz über den Strassentransit im Oberwallis". Damit wollte Bircher einen weiteren Volksentscheid ermöglichen und dadurch die Glaubwürdigkeit des parlamentarischen Entscheids festigen. Sein Antrag war nicht konsensfähig, worauf er ihn zurückzog.

Bei der Detailberatung hielt der Nationalrat mit 69 gegen 64 Stimmen gegen den Ständerat daran fest, dass die Linienführung am Gotthard, am San Bernardino, am Simplon und am Grossen St. Bernhard nicht verändert werden dürfe, um den Verkehrsfluss zu erhöhen. Unbestritten blieben jedoch die Klauseln für Ausnahmen vom Verbot der Erhöhung der Transitkapazität. Danach sind Massnahmen für eine bessere Verkehrssicherheit, den Unterhalt und den Wiederaufbau nach Schäden sowie der Bau oder Ausbau von Umfahrungsstrassen zur Entlastung von Ortschaften vom Durchgangsverkehr erlaubt.

In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat an seinem Entscheid fest, Veränderungen der Linienführung, die der Beschleunigung des Verkehrsflusses dienen, nicht als Kapazitätserhöhung zu verstehen und somit zuzulassen. Diesem Entscheid folgte schliesslich auch der Nationalrat mit 80 zu 50 Stimmen. Dies allerdings gegen den Widerstand einer von Hämmerle (S, GR) angeführten starken Kommissionsminderheit. Hämmerle warnte erfolglos davor, ein weiteres Mal "den Volkswillen zurechtzubiegen". Hier gehe es um Kapazitätserweiterungen, die "schlicht und einfach verfassungswidrig" seien.

Der Bundesbeschluss wurde schliesslich in der Schlussabstimmung mit 96 zu 60 Stimmen im Nationalrat und mit 39 zu 1 Stimmen im Ständerat angenommen.

Legislaturrückblick 1991-1995 - © Parlamentsdienste Bern

 

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